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„Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck (2015)

Rezension von Vanessa Prior

Inhaltsverzeichnis
  1. Inhalt
  2. Kritik
  3. Unterrichtliche Perspektiven
  4. Fazit
  5. Literaturverzeichnis

 

Inhalt

Innerhalb der Romanhandlung von Gehen, ging, gegangen geht es um das Zusammentreffen zweier Welten, um einen weiß-deutschen Protagonisten und um geflüchteten Menschen, die versuchen, irgendwie in einem neuen Leben anzukommen.

Der Protagonist ist Richard, ein Professor, der zu Beginn der Romanhandlung seinen Ruhestand antritt. Da seine Frau bereits seit längerem verstorben ist, war die Arbeit in der Universität sein größter Lebensmittelpunkt. Während Richard noch am überlegen ist, was er nun mit seiner neu gewonnenen Freiheit anstellen soll, protestieren einige Geflüchtete in seiner Heimatstadt, Berlin. Sie protestieren in Berlin vor dem Rathaus, auf ihren Schildern steht Folgendes: Sie wollen gesehen werden, sie wollen arbeiten dürfen und sich somit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.[1] Als Richard an ihnen vorbeigeht, nimmt er diese kaum wahr. Erst abends, als er durch die Nachrichten von der Demonstration erfährt, ist er interessiert an den Geflüchteten und ihrem Schicksal. Gleichzeitig fragt er sich jedoch auch, warum er sie vorher nicht wahrgenommen hat, obwohl er sie hätte sehen müssen.[2] Er beschließt zu einer Beratung für die Anwohner:innen und Geflüchteten zu gehen, um Letztere besser kennenzulernen und etwas über sie zu erfahren. Da ihm der Austausch innerhalb dieser Beratung jedoch nicht ausgereicht hat und er nun noch mehr über die Geflüchteten erfahren möchte, besucht er sie in ihrer Geflüchtetenunterkunft, einem alten Seniorenheim.[3] Hierbei bleibt es nicht bei einem Besuch und er freundet sich immer mehr mit einzelnen Geflüchteten an. Diese erzählen Richard von ihren Familien, von denen sie getrennt wurden, von den Verlusten, die sie zu betrauern haben, von ihrer Heimat, die zerstört wurde, von ihrer Flucht nach Deutschland sowie von den Problemen, mit denen sie im Ankunftsland Deutschland zu kämpfen haben. Diese Erzählungen berühren Richard und er beschließt, den Geflüchteten von nun an, so gut es ihm irgendwie möglich ist, zu helfen. So unterstützt er sie bei Amtsgängen und Verhandlungen und versucht, ihnen das triste Leben in der Geflüchtetenunterkunft interessanter zu gestalten, indem er sie zu sich nach Hause zum Essen einlädt oder ihnen das Klavierspielen beibringt.[4] Dabei wird er mit vielen neuen Gegebenheiten konfrontiert, über die er so noch nie nachgedacht hatte. Zum Beispiel die gesetzlichen Regelungen Deutschlands hinsichtlich der Flüchtlingspolitik. Nachdem er sich mit diesen auseinandergesetzt hat, empfindet er diese als sehr ungenau und auch als unfair. Beispielsweise muss Deutschland durch das Gesetz „Dublin II“ keine Geflüchteten verpflichtend aufnehmen. Dies müssen nur diejenigen europäischen Länder, durch die eine geflüchtete Person das erste Mal europäisches Land betritt. Daher ist Deutschland nicht verpflichtet, Asylanträge zu bewilligen, und selbst der Weg zum Antrag ist für geflüchtete Personen meist sehr schwierig.[5] An diesen und anderen Situationen wird Richard immer deutlicher, wie sehr er die Hürden und Strapazen unterschätzt hat, die die Geflüchteten selbst in Deutschland noch erleben müssen. Da er die Geflüchteten liebgewonnen hat, versucht er ihre Abschiebungen zu verhindern und ihnen zu helfen, doch Asyl bewilligt zu bekommen, scheitert allein an den Gesetzen. Richard nimmt seit seinem Kontakt zu den Geflüchteten zwei Lebenswelten wahr: Die eine als (ehemaliger) Professor, in der er sich auskennt, soziales Ansehen erfährt und die er kontrollieren kann und die zweite, in der er Machtlosigkeit zu spüren bekommt, keine Kontrolle über die Vorkommnisse hat und – so wie die Geflüchteten – nur hoffen kann.[6] Am Ende der Romanhandlung sitzt Richard mit seinen alten Freund:innen und den Geflüchteten, die für ihn hinlänglich Freunde geworden sind, bei sich im Garten am Lagerfeuer. Richard erfährt, dass bis auf zwölf Ausnahmen alle von den 476 Geflüchteten abgeschoben werden. Drei dieser Ausnahmen sind Richards Freunde, die auch nur aufgrund ihrer schlechten psychischen Verfassung eine befristete Duldung für Deutschland bekommen.[7] Wie es daraufhin mit ihnen weitergeht, bleibt offen.

Besonders interessant ist die Erzählweise dieses Romans. Häufig gibt es während der Romanhandlung Sprünge zwischen der Lebenswelt der Geflüchteten und der Richards Lebenswelt. Innerhalb eines Absatzes macht sich Richard noch Gedanken über die Asylgesetze, denkt darüber nach, warum diese so willkürlich scheinen und überlegt, wie es wäre, wenn ihm selbst jemand dies in einer für ihn fremden Sprache erklärt. Im nächsten Absatz zieht er sich Anzug und Schlips an, da er am Abend zu einem Geburtstag bei Freund:innen eingeladen ist.[8] Abschnitte wie diese zeigen deutlich auf, wie getrennt die unterschiedlichen Lebenswelten doch sind. Personen, die schon lange in Deutschland leben und hier aufgewachsen sind, können es sich aussuchen, mit welcher Lebenswelt sie sich beschäftigen möchten, mit der unangenehmen Wahrheit oder doch lieber mit den angenehmeren Seiten des eigenen Lebens. Die Geflüchteten können dies nicht.

 

Kritik

Dieser Roman ist machtkritisch geschrieben. Dadurch, dass die Rezipient:innen  die Geschichte aus der Perspektive eines ehemaligen Professors erleben, mit dem sich die weiß-deutschen Leser:innen[9] sehr gut identifizieren, da sie sich in dessen Lebenseinstellung und Lebensstil gut hineindenken können, befinden sich jene Leser:innen – vermutlich ein Großteil – gemeinsam mit Richard zunächst auf der Machtseite der Kulturen. Der Begriff Kultur sollte hierbei als zentrale Differenz- bzw. Zugehörigkeitsdimension verstanden werden.[10] Innerhalb dieses Romans ist diese Differenzdimension dominant, da es um die Unterschiede der Lebenswelten von Richard und den Geflüchteten geht. Richard ist zum Beispiel zum einen durch seine deutsche Staatsangehörigkeit und zum anderen durch seinen sehr anerkannten Beruf den Geflüchteten überlegen. Dies spiegelt sich anfangs auch in seinem Verhalten wider: Er befragt die Geflüchteten, sie antworten, er geht die Flüchtlinge besuchen und kommt und geht, wie es ihm in seinen Tagesplan passt.[11] Zwar wird deutlich, dass Richard sich für die Geflüchteten interessiert, dennoch ist das Machtverhältnis im Rezeptionsprozess spürbar. Im Verlauf der Erzählung baut sich dieses Machtverhältnis auf der emotionalen Ebene zwar zunehmend ab, allerdings steht Richard durch diverse Faktoren nach wie vor über den Geflüchteten. So hat er – im Gegensatz zu den Geflüchteten – Geld und ist im Besitz eines deutschen Passes. Mit Hilfe seines Ausweises meldet er eine Demonstration für die Geflüchteten an, die ohne deutschen Ausweis nicht angemeldet und somit auch nicht durchgeführt werden darf.[12] Ohne Richards Hilfe hätten sie nicht einmal protestieren dürfen. Somit sind die Geflüchteten auf diese Weise oftmals von Richard abhängig.

Eine weitere Differenzdimension sind die verschiedenen Kulturen, die innerhalb der Romanhandlung aufeinandertreffen. Richard tritt diesen von Anfang an offen gegenüber und erfährt im Verlauf der Romanhandlung viel über die Kulturen der Geflüchteten. So erkundigt er sich bspw. nach ihrem Leben vor der Flucht. Die Geflüchteten erzählen von sich und einige berichten auch von ihren individuellen Fluchterlebnissen.[13] Über die Erfahrungsberichte denkt Richard oftmals noch lange nach, wobei er nicht selten Bezüge zur weiß-deutschen Lebenskultur zieht. So kauft Richard Karon, einem der Geflüchteten, ein Grundstück in dessen Heimat (Ghana). Zwar kommt ihm dieser Akt sehr merkwürdig vor, aber er vertraut Karon, dass dies alles seine Richtigkeit hat. Nur Stunden später hat Karons Familie das Grundstück auch tatsächlich erhalten.[14] Hier ist Richard verblüfft, wie schnell und problemlos er von Deutschland aus ein Grundstück in Ghana kaufen kann und er erinnert sich an die Zeit zurück, als er mit seiner Frau ein Haus in Deutschland kaufen wollte, was mit einem großen bürokratischen Aufwand verbunden war.[15] Durch solche Aspekte werden Vorstellungen von ‚anderen‘ Kulturen nahe gebracht und die Leser:innen begreifen, dass es zwar Dinge geben mag, die aus weiß-deutscher Perspektive innerhalb anderer Kulturen komisch erscheinen, genauso ist es aber auch umgekehrt. Es wird deutlich, dass es auch in unserer Kultur durchaus Dinge gibt, die auf andere merkwürdig wirken können. In diesem Beispiel wäre es die Bürokratie, die innerhalb Deutschlands oftmals unnötig kompliziert erscheint.

Vor allem aber ist dieser Roman problemorientiert. Problemorientiert bzgl. der Dinge, die hinsichtlich der Flüchtlingspolitik in Deutschland nicht funktionieren. Es wird kritisiert, wie mit den Geflüchteten umgegangen wird: Die bürokratischen Anforderungen, die für jemanden, der alles verloren hat und die deutsche Sprache nicht spricht, fast nicht zu managen sind.[16] Die Tatsache, dass auf individuelle Schicksale kaum eingegangen wird und alle bürokratischen Angelegenheiten als ein Fall abgearbeitet werden, obwohl es individuelle Leben sind.[17] Dass Verträge mit Geflüchteten plötzlich nichts mehr wert sind (zugunsten des Staates), weil irgendwann auffiel, dass dort eine Unterschrift fehlt, um die sich vorher keiner gekümmert hat und die vorher auch nicht wichtig war.[18] Dies sind nur einige Aspekte, auf die der Roman eingeht. Die Aufforderung nach einem dringenden Handlungsbedarf ist nicht zu übersehen und wirkt auf die Leser:innen auch dann, wenn diese bisher nicht viel mit dem Thema Flüchtlingspolitik zu tun hatten. Genau diese Menschen werden hier aber auf emotionale und verständliche Weise abgeholt und für das Thema der Flüchtlingspolitik sowie die Schicksale Geflüchteter sensibilisiert. Die Leser:innen werden dahingehend sensibilisiert, was es für einen Menschen überhaupt bedeutet kann, geflüchtet zu sein und wie das Leben dieser Menschen in Deutschland aussehen kann, obwohl sie vermeintlich an ihrem Ziel angekommen sind. Zudem werden die Leser:innen möglicherweise mit dem eigenen Verhalten konfrontiert, bspw. durch Abschnitte wie Folgende:

Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, Leichen von Erdbebenopfern, Flugzeugabstürzen, hier einen Schuh von jemandem nach einem Selbstmordanschlag, dort in Folien gewickelte Körper von Opfern einer Seuche, nebeneinander im Massengrab liegend. Er schämt sich auch heute, und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.[19]

Dadurch werden die Leser:innen mit Situationen konfrontiert, die sie selbst vielleicht ebenfalls kennen. Ab einem gewissen Alter ist es fast unmöglich, nicht schon einmal mit solchen Nachrichten konfrontiert worden zu sein, ob durch das Fernsehen, Social Media oder ein anderes Medium und oftmals reagieren Menschen so wie Richard in dem obigen Zitat. Doch gerade diese Textstellen sind es, die zum Nachdenken anregen und die Leser:innen das Gelesene durch die Selbstreflexion nicht so schnell vergessen lassen. Der Roman erzählt eine fiktive Handlung, die jedoch oft Bezüge zu unserer realen Wirklichkeit vornimmt.

 

Unterrichtliche Perspektive

Ziel des Romans Gehen, ging, gegangen ist die Aufklärung und Sensibilisierung für die Situationen geflüchteter Menschen. Ein zentrales Argument für Fluchtliteratur im Allgemeinen und somit auch für diesen Roman ist die Förderung der Empathie der Schüler:innen sowie das Näherbringen von möglichen Einzelschicksalen Geflüchteter.[20] Wird der Roman mithilfe des Analyserasters von Heidi Rösch (2006) auf rassistische Argumentationsmuster untersucht, so fällt auf, dass der Roman auch dieser Bewährungsprobe standhält und sich geeignet für einen diversitätssensiblen Unterricht zeigt. Es findet kein Vermeidungssyndrom statt, bei dem eine konfliktfreie Welt dargestellt werden würde.[21] Im Gegenteil, die Konflikte innerhalb der Welt der Geflüchteten und zwischen ihrer und der weiß-deutschen Welt werden deutlich dargestellt, ohne die Situationen zu beschönigen. Auch das Defizitsyndrom ist während der Romanhandlung nicht zu finden. Hierbei würden Zugehörige bestimmter (unterlegenen) Gruppen im Vergleich zu der dominanten Gruppe als generell schlechter dargestellt werden.[22] Der Roman greift diesen Gedanken sogar direkt auf, indem Freund:innen von Richard bei einem Gespräch festhalten, wie intelligent einer der Geflüchteten doch ist und dass sie sich sicher sind, er würde Medizin studieren, wenn ihm das Leben nicht dazwischengekommen wäre.[23] Damit macht der Roman deutlich, dass es oftmals nicht nur unsere Veranlagungen sind, die bestimmen, wie erfolgreich wir sind, sondern auch die äußeren Umstände, die wiederum bestimmen, ob wir unser gesamtes Potenzial ausschöpfen können. Hinsichtlich des Enthistorisierungssyndroms, bei dem die rechtliche und politische Situation von Minderheiten und diskriminierten Gruppen ausgeklammert wird, stellt der Roman die politische Situation der Geflüchteten sowohl in ihrer Heimat, als auch in Deutschland dar.[24] Allerdings ist anzumerken, dass die politische Situation der Geflüchteten innerhalb von Deutschland mehr thematisiert wird als die in ihrer Heimat. Dies ist dem Fakt geschuldet, dass sich die Romanhandlung innerhalb Deutschlands abspielt und die Thematisierung der ausländischen Politik nur dem besseren Verständnis der Leser:innen dient, um die Situation der Flucht besser verstehen zu können. Auch am Ethnisierungs-/ Kulturalisierungssyndrom (stereotypische Zeichnungen, Angehörige einer Gruppe werden nicht als Individuum, sondern nur als Repräsentant:innen ihrer Kultur gesehen) ist hinsichtlich des Textes kaum Kritik zu üben.[25] Zwar stellen die Geflüchteten auch einzelne Repräsentant:innen ihrer Kultur dar, werden allerdings durch ihre individuellen Geschichten, Wünsche und ihr Handeln immer als Individuen dargestellt. Auch eine Kritik bezüglich des Harmonisierungssyndroms (asymmetrischer Vergleich zugunsten der dominanten und zu Ungunsten der diskriminierten Gruppe) lässt sich nicht finden.[26] Es werden keine unfairen Vergleiche zwischen den einzelnen Personen gezogen, sondern nur hinsichtlich der unterschiedlichen Lebenswelten, die die Realität widerspiegeln. Bezüglich des Oasensyndroms (isolieren von Angehörigen der diskriminierten Gruppe und das Einstellen dieser als Einzelne in die dominante Gruppe) erfüllt der Roman auch die Kriterien für eine gelungene, diversitätssensible Literatur.[27] Die Geflüchteten werden nicht als einzeln und hilflos dargestellt, sondern verbleiben während der gesamten Romanhandlung innerhalb ihrer Gruppe und wehren sich auch gegenüber ungerechten Behandlungen (bspw. durch den Hungerstreik zu Beginn).[28] Zwar treffen sie sich auch mit Richard allein und bauen eine Freundschaft mit ihm auf, allerdings werden sie u. a.  aufgrund der Abschiebung nie „durch erbrachte Assimilationsleistung“[29] in die Gesellschaft aufgenommen. Lediglich das Abendteuer- bzw. Exotiesierungssyndrom (das Leben von Minderheiten wird durch Naturkatastrophen oder menschliche Dramen interessanter gestaltet[30]) muss ich differenzierter in den Blick nehmen: Zwar kann man die dargestellten Erlebnisse und Geschichten der Geflüchteten dem Abendteuer- bzw. Exotisierungssyndrom zuordnen, diese Darstellungen dienen allerdings nicht dazu, die Geflüchteten interessanter wirken zu lassen. Sie dienen der Hintergrundinformation und sind wichtig, damit die Kritik des Romans an dem Umgang mit dem Menschen, gerade bei alldem, was sie bisher erlebt haben, hervortritt.

Aufgrund all dieser unterschiedlichen Perspektiven, die in diesem Roman aufeinandertreffen und durch die die Leser:innen zwei verschiedene Seiten kennenlernen, bietet dieser Roman sehr viel Potenzial für das literarische Lernen im Unterricht in Bezug auf Diversität. Die Leser:innen bekommen verschiedene Einblicke in die diversen Situationen, die die Geflüchteten während ihrer Flucht erlebt haben, und auch jetzt, in Deutschland, noch erleben. Besonders interessant ist meiner Meinung nach der gewählte Schreibstil, weil zwei Perspektiven mit ihren jeweiligen ‚Filtern‘, durch die die Welt erlebt wird (Perspektive der Geflüchteten und der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft), gegenübergestellt wird. Durch die in der Romanhandlung vorkommenden Schilderungen und Eindrücke werden Vorurteile oder vorschnelle Gedanken, die in unserer Gesellschaft durchaus vorkommen können und auch vorkommen, angesprochen. Aufgrund dieser Darstellung lassen sich einige Diskussionen führen, bspw. ob die Schüler:innen vor den Einblicken in das Leben eines Geflüchteten gleiche oder ähnliche Gedanken gehabt hätten, wie nach den Einblicken. Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht? Drängen sich vielleicht noch andere Gedanken auf? Zudem regt der Roman auch selbst stark zum Nachdenken an, was das eigene Leben und die eigenen Verhaltensweisen betrifft. Durch den Protagonisten erleben wir immer wieder Situationen, die wir selbst kennen, in denen wir mit Flucht und Geflüchteten konfrontiert werden und bekommen durch die Gedanken von Richard einen neuen Blick auf das Ganze. Dieser Roman holt die Lesenden aus der eigenen Welt ab und schafft es, ganz ohne aufdringlich zu wirken, neue Sichtweisen und Empathie zu schaffen. Er erzählt eine Geschichte, die auch nach dem Lesen immer noch wirkt und großes Potenzial hat, nachhaltig zu sein.

Aufgrund des Schreibstils, der Romanlänge und auch der Komplexität der einzelnen Themen, würde ich diesen Roman ab der neunten Klasse empfehlen. Ab der achten wäre sicherlich auch möglich, es bleibt der Lehrkraft natürlich ein gewisser Spielraum, je nachdem, wie die Klasse eingeschätzt wird. Wichtig ist, dass die Jugendlichen schon Erfahrungen mit dem Thema Flucht gesammelt haben, da dies für fundierte Diskussionen notwendig ist. Hierbei muss von der Lehrkraft berücksichtigt werden, dass die Erfahrungen mit Flucht auch unmittelbar für die Schüler:innen gewesen sein könnten. Zudem sollte für ein besseres Verständnis die Kompetenz vorhanden sein, den fiktionalen Konstruktionscharakter der Romanhandlung zu identifizieren, also zu verstehen, dass die Romanhandlung fiktiv ist.[31] Die Thematik an sich ist nicht einfach und gerade die Lebensgeschichten der einzelnen Flüchtlinge müssen zunächst verstanden und dann aufgearbeitet werden. Es werden die einzelnen Schicksale der Geflüchteten zwar nicht im Detail erläutert, jedoch gut genug beschrieben, dass ich den Roman frühestens ab der achten Klasse empfehlen würde. Auch sollte die Lehrkraft die Schüler:innen hinsichtlich der Sprache innerhalb des Romans sensibilisieren. Denn es kommt vor, dass rassistische Äußerungen wie „die Schwarzis“[32] getätigt werden, um die rassistischen Handlungen und/oder Denkweisen einiger Figuren zu verdeutlichen. Allerdings bieten solche Äußerungen auch einen didaktischen Mehrwert, da im Unterrichtsgespräch darüber gesprochen werden kann (und sollte), warum solche Aussagen rassistisch sind.

Ein weiteres Augenmerk ist definitiv auf die Flüchtlingspolitik zu richten, die in dem Roman sehr kritisch dargestellt wird. Wichtig wäre hierbei, dass sich die Lehrperson vorher informiert, wie die aktuelle Situation in der Flüchtlingspolitik ist, um zunächst selbst reflektieren zu können, ob die reale Politik von der des Romans abweicht und wenn ja, inwieweit. Hier würde es sich dann anbieten, einzelne Textausschnitte von den Schüler:innen mit Textmarkern bearbeiten zu lassen, um die einzelnen Kritikpunkte an der Flüchtlingspolitik herauszustellen. Später könnte dieses Thema dann über Mindmaps oder andere visuelle Mittel aufgearbeitet und festgehalten werden. Es würde sich hier bspw. anbieten, das deutsche Recht mit den Rechten von Geflüchteten zu vergleichen und daraufhin zu diskutieren, wie gerecht die Schüler:innen dies finden oder ob sie andere Ideen für eine Flüchtlingspolitik haben. Daher eignet sich dieses Thema für verschiedene Unterrichtsfächer wie Deutsch, Politik, Geschichte und auch Praktische Philosophie. Zudem ist es interessant und gerade in der heutigen Zeit durchaus wichtig, dass sich die Schüler:innen generell mit der Flüchtlingspolitik und den Geschichten von Geflüchteten beschäftigen, da dies ein wichtiges Thema ist und der Roman einen guten Einstieg in eben dieses Thema bietet.

Ein weiterer interessanter Aspekt sind auch die unterschiedlichen Haltungen gegenüber Geflüchteten, die innerhalb des Romans dargestellt werden. Die Diversität der Geflüchteten wird von dem Protagonisten Richard positiv aufgenommen, er interessiert sich für ihre Geschichten, aber auch für den Menschen, der hinter diesen Geschichten steht. Die Gegenposition nehmen einige von Richards Freund:innen ein. Sie sind voll von Vorurteilen und haben beispielsweise kein Verständnis dafür, dass ausländische Frauen sich prostituieren, um irgendwie an Geld für ihre Familien zu kommen. Ganz im Gegenteil, sie fühlten sich in ihrem Urlaub sogar davon gestört.[33] Hier wäre es interessant, diese unterschiedlichen Denkweisen gegenüberzustellen und zu schauen, wo hier die genauen Unterschiede liegen. Hierfür könnten die Schüler:innen zwei Textauszüge bekommen, einen über Richards Empfinden und einen von dem gegenteiligen Denken einiger seiner Freund:innen. Es könnte dann eine Art Rollenspiel stattfinden, in dem die Schüler:innen die unterschiedlichen Haltungen einnehmen und dann über ihre Ansichten diskutieren. Dies wäre insofern didaktisch wertvoll, als das sich in dieser Diskussion höchst wahrscheinlich herausstellen wird, dass rassistische Argumente nicht bestehen können und somit Wertebildung über die Romanlektüre stattfindet.

Im Allgemeinen eignet sich dieser Roman für spannende Abschlussdiskussionen, bei denen auf die unterschiedlichsten Thematiken eingegangen werden kann. So bietet der Roman auch selbst Diskussionsthemen an. Zwei Seiten des Romans sind komplett leer, auf beiden ist nur folgende Frage abgedruckt: „Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“[34] Es wirkt so, als wäre das die zentrale Frage, die der Roman an die Leser:innen richten möchte. Eine Frage, die so vielleicht gar nicht wirklich beantwortet werden, aber zu interessanten Diskussionen und zum Austausch führen kann.

Wenn nun die Geschichten der Geflüchteten gemeinsam mit den Schüler:innen reflektiert wurden, kann in der Anschlusskommunikation beispielsweise auch diskutiert werden, inwiefern die Vergangenheit einen Einfluss auf das Verhalten der Geflüchteten innerhalb des Romans haben kann. Auch kann die Vergangenheit dieser Geflüchteten beispielhaft genutzt werden, um gewisse Verhaltensmuster von Geflüchteten in Deutschland zu analysieren, um zu versuchen zu verstehen, woher Verhaltensweisen wie bspw. Gewalt ihren Ursprung haben können. Hier wird das diversitätssensible Empfinden der Schüler:innen angeregt. Im Hinblick auf die kulturelle Handlungsfähigkeit kann Literatur, genauso wie das Medium Film, auch die Genuss- sowie die Kritikfähigkeit schulen, da die Schilderungen innerhalb der Romanhandlung die Schüler:innen zum Teil emotional ansprechen, diese aber auch gleichzeitig den Roman als solchen betrachten und differenzieren müssen, obwohl die Darstellungen wohl einen wahren Kern haben.[35] Wenn sie aber einmal verstanden haben, warum die Geflüchteten innerhalb des Romans so handeln, wie sie handeln, dann können sie auch nachvollziehen, warum auch die Geflüchteten in unserer Realität manchmal handeln, wie sie handeln. Nicht alle tun dies nur, weil sie einfach Lust auf bspw. Vandalismus haben. Einige tun dies aus Verzweiflung, weil sie nicht wissen, wie sie sonst mit ihrem Frust und ihrer Machtlosigkeit umgehen sollen.

 

Fazit

Gehen, ging, gegangen ist ein Roman, der zwei Lebenswelten zusammenbringt, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der einen Seite haben wir die Perspektive des ehemaligen Professors Richard, der weiß positioniert ist, in seinem Leben sehr viel erreicht hat und dessen größtes Problem zu Beginn der Romanhandlung zu viel Freizeit war. Auf der anderen Seite haben wir die Perspektive der Geflüchteten, die Dinge erlebt haben und teilweise immer noch erleben, die man sich als weiß-deutsche Person ohne Flucht- und Migrationsgeschichte kaum vorstellen kann. Durch die Schreibweise und die Einblicke in die verschiedenen Perspektiven und Geschichten der einzelnen Personen ist der Roman abwechslungsreich geschrieben und bietet ständig neue Eindrücke für die Leser:innen. Diese sind emotional und teilweise sind die Schilderungen auch sehr bildlich, wobei nie so weit ins Detail gegangen wird, als dass die Romanhandlung nicht für Jugendliche geeignet wäre. Doch gerade durch diese Schilderungen berührt die Handlung die Leser:innen auch emotional, was häufig einen Bedarf an Austausch und Diskussion weckt. Durch die herbeigeführte Selbstreflexion, mit der sich die Leser:innen unweigerlich auseinandersetzen müssen, wirkt die Romanhandlung kaum mehr fiktiv, sondern bekommt einen teilweise sehr realen Charakter. Die Empathie der Leser:innen wird stark angeregt, da der Roman zunächst einen recht nüchternen Blick auf die in der Romanhandlung aktuellen Geschehnisse und die Geschichten der Geflüchteten beginnt. Mit fortschreitender Handlung ändert sich dies, der Protagonist wird einfühlsamer und auch die Erzählweisen des Romans werden einfühlsamer. Die Hilflosigkeit der Geflüchteten gegenüber der aktuellen Politik und der Gesetze wird immer deutlicher und überträgt sich auch auf die Leser:innen, da diese sich mit Richard identifizieren, doch auch er scheitert mit seiner angebotenen Hilfe. Der Roman bietet innerhalb seiner Handlung an verschiedenen Stellen Spielraum für verschiedene Diskussionen und bietet sich für viele verschiedene didaktische Überlegungen an. Es ist fast unmöglich, nach dem Lesen nicht noch über das Gelesene nachzudenken. Es ist eine fiktive Romanhandlung, mit jedoch so vielen realen Bezügen, dass ich persönlich davon überzeugt bin, dass diese Fiktion für manche Menschen leider die Realität darstellt. Der Roman Gehen, ging, gegangen stellt eine Realität dar, die gerade stattfindet, innerhalb unserer Gesellschaft, die aber für die weiß-deutsche Mehrheitsgesellschaft oft verborgen bleibt. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass diversitätssensible Literatur im Schulunterricht eingesetzt wird, egal ob es sich dabei um Fluchtliteratur oder andere Arten der Behandlung von Diversität handelt. Alle Menschen auf der Welt sind unterschiedlich, jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und seine eigene Vorstellung vom Leben, unabhängig von Alter, Herkunft, Religion oder Aussehen. Ein friedliches Zusammenleben ist nur dann möglich, wenn wir als Gesellschaft empathisch sind und diese Diversität nicht nur akzeptieren, sondern auch respektieren. Um auch für das, was wir vielleicht nicht auf den ersten Blick sehen, unserer Gegenüber jedoch in Form von Rassismus, Sexismus oder anderen Unterdrückungen und Erniedrigungen erlebt und fühlt, Empathie zu haben, ist das Thema der Diversität so wichtig. Als weiß-deutsche Personen haben wir häufig eine privilegierte Sicht und nehmen durch diesen Filter unsere Umwelt anders wahr, als sie für Personen erscheint, die jene weißen Privilegien (helle Hautfarbe, gute Bildung, finanziell und emotional stabile Familien, Sicherheit etc.) nicht haben. Je früher Kinder und Jugendliche diese andere Sichtweise durch einen diversitätssensiblen Unterricht erlernen, desto eher gehören Ausgrenzungen und Diskriminierung der Vergangenheit an.

[1] Vgl. Erpenbeck, 2015, S.18; 23.

[2] Vgl. ebd., S.27f.

[3] Vgl. ebd., S. 55f.

[4] Vgl. ebd., S. 145; 161f.; 301ff.

[5] Vgl. ebd., S. 84f.

[6] Vgl. ebd., S. 271.

[7] Vgl. ebd., S. 331.

[8] vgl. ebd., S. 87.

[9] In Deutschland lebende Personen, die keinen Flucht- und/oder Migrationshintergrund aufweisen und die ‚typisch deutsche‘ Lebenskultur mit all ihren (unsichtbaren) Privilegien repräsentieren.

[10] Vgl. Hodaie, 2020, S. 323.

[11] Vgl. Erpenbeck, 2015, S. 55f.; 68.

[12] Vgl. ebd., S. 266.

[13] Vgl. ebd., S. 76ff.

[14] Vgl. ebd., S. 275ff.

[15] Vgl. ebd., S. 276f.

[16] Vgl. ebd., S. 250f.

[17] Vgl. ebd., S. 226.

[18] Vgl. ebd., S. 300.

[19]  Ebd., , S. 27.

[20] Vgl. Bernhardt, 2021, S. 4.

[21] Vgl. Rösch, 2006, S. 98.

[22] Vgl. ebd., S. 98.

[23] Vgl. Erpenbeck, 2015, S. 242.

[24] Vgl. Rösch, 2006, S. 99.

[25] Vgl. ebd., S. 98.

[26] Vgl. ebd., S. 98f.

[27] Vgl. ebd., S. 99.

[28] Vgl. Erpenbeck, 2015, S. 18.

[29]  Rösch, 2006, S. 99.

[30] Vgl. ebd., S. 98f.

[31] Vgl. Bernhardt, 2021, S. 6.

[32] Erpenbeck, 2015, S. 121.

[33] Vgl. ebd., S. 243.

[34] ebd., S. 278/279.

[35] Vgl. Anders et al., 2019, S. 37.

 

Literaturverzeichnis

Anders, Petra; Staiger, Michael; Albrecht, Christian; Rüsel, Manfred; Vorst, Claudia (2019): Einführung in die Filmdidaktik. Kino, Fernsehen, Video, Internet. Berlin. Heidelberg: J.B. Metzler Verlag.

Bernhardt, Sebastian (2021). Fluchtliteratur in der Primarstufe als fiktionaler Weltentwurf. Didaktische Überlegungen zur Fokussierung des Konstruktcharakters von Fluchtliteratur in der Grundschule. MiDU – Medien im Deutschunterricht, 3(2), 1–16.

Erpenbeck, Jenny (2015). Gehen, ging, gegangen. 7. Auflage. München: Knaus.

Hodaie, Nazil (2020). Interkulturalität. In: Kurwinkel, T. & Schmerheim, Ph. (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur (S. 322–333). Berlin: Metzler Verlag.

Rösch, Heidi (2006). Was ist interkulturell wertvolle Kinder- und Jugendliteratur? In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, 58(2), 94-103.

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